Bowie trifft Foucault im Dschungel – und „scobel & winkels“ auf einen Überraschungsgast in der Zentralbibliothek

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„Als spannende Überraschungsgeschichte” hatte Hubert Winkels den Abend angekündigt, flankiert von Gert Scobel: „Wir improvisieren. Da ist alles offen!”

Zum vielversprechenden Auftakt geriet gestern der neue Literatur-Talk der Stadtbibliothek. Das Publikum auf den gefüllten Stuhlreihen freute sich über zwei Moderatoren, mit denen es die Leidenschaft fürs Lesen teilte. „scobel & winkels – Von Büchern und Buchmessen” heißt das neue Format des Kulturprogramms und von Beginn an ging es mit Leidenschaft zur Sache.

Interessantes über den „Preis der Leipziger Buchmesse” wusste Winkels als Jury-Vorsitzender zu berichten. Sieben Mitgliedern oblag die Prüfung von 450 Büchern, um drei davon als Preisträger in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung zu küren. Wie das zu bewältigen ist, garnierte er mit humorvollen Details.

Einen lebhaften Dialog entfachten Scobel/Winkels über Houellebecqs jüngsten Literatur-Coup „Unterwerfung”. Die Parallelität zum Charlie-Hebdo-Attentat führte, so Winkels, „zu wild konstruierten Zusammenhängen”. Scobel attestierte dem Autor auch bei zwei anderen Büchern „ein seltsames Gespür für Dinge, die passieren” und bescheinigte ihm „eine geschickte Analyse der Fehler der westlichen Welt.” So flogen die Bälle hin und her: „Nihilistisch” (Winkels) – „Sehnsucht nach einem anderen Leben” (Scobel) – „Kompensation des Sinndefizits durch Essen, Trinken, Sex” (Winkels) – „clevere Darstellung von Politik” (Scobel). Fazit: „Wenn man den Roman zu ernst nimmt, ist es kein guter Roman” (Winkels) – „Muss man lesen!” (Scobel).

So richtig in Fahrt gerieten die beiden beim „Langen Sommer der Theorie”. Autor Philipp Felsch begab sich auf die Spuren einer „Revolte”, die zwischen 1960 und 1990 stattfand. Zwischen Frankfurt/M., Berlin und Frankreich, dem Suhrkamp und dem Merve Verlag verorteten die Moderatoren einen „Diskurs-Pogo”, der an den abstrusesten Orten ausgefochten wurde – nur nicht im Hörsaal. Texte von Adorno, Habermas, Barthes, Foucault, Derrida erhitzten die Gemüter. Graue Theorie („Text ist Arbeit” Winkels) fand sich in bunten Taschenbuch-Einbänden wieder. Und die Debatten darüber entluden sich in Künstlerkneipen wie dem “Ratinger Hof” oder Tanzclubs wie dem „Dschungel“, wo in den siebziger Jahren auch David Bowie auftauchte. Was „neomarxistisch” begann, endete in der Kunst. Kippenbergers Buch im Merve Verlag ersetzte die Theorie durch Frauenbilder. Scobels Fazit zum „Langen Sommer”: „Glänzend geschrieben, wie ein Roman!”. Winkels: „Das Buch für Bibliotheksliebhaber!”

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Als heimlicher Star des Abends entpuppte sich Cordula Paar! Sie hatte sich für die Teilnahme beworben und durfte als Überraschungsgast ihren Lieblings-Klassiker vorstellen. Bei aller Unerfahrenheit auf dem Podium erstarrte sie nicht in Respekt vor den versierten Moderatoren, sondern vertrat selbstbewusst ihren Standpunkt. Dieser bezog sich auf das ausgewählte Buch von Hans Fallada: „Jeder stirbt für sich allein” (in der ungekürzten Neuausgabe von 2011). Geschildert wird die authentische Geschichte des Ehepaars Quangel, das Postkarten-Flugblätter gegen Hitler ausgelegt hatte und denunziert worden war. Es gilt als das erste Buch eines deutschen nicht-emigrierten Schriftstellers über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Cordula Paar: „Ein heißes Eisen, als die erste Ausgabe direkt nach dem Krieg erschien.” Zur dritt diskutierte das Podium die Rolle des Buches in der DDR. Während Scobel/Winkels die literarische Qualität relativierten („Grob geschrieben, teilweise unplausibel”), verteidigte Paar ihre Wahl „jede Figur wird verständlich dargestellt”. Besonders imponierte ihr die Ehefrau Anna Quangel, bei der sie eine emanzipatorische Entwicklung feststellt. Geschickt und strategisch klug verstand sie es, ohne aufzufallen, sich dem Griff einer Nazi-Frauenschaft zu entziehen. Cordula Paar las abschließend eine Passage aus dem Buch und erhielt für ihren Auftritt den wohlverdienten Applaus des Publikums.

Zum Kehraus präsentierten Scobel/Winkels vier Buchtipps (s. Liste unten). Fazit insgesamt: Ein unterhaltsamer, kurzweiliger Abend mit vielen Anregungen und Inspirationen und ein voller Erfolg für das neue Veranstaltungskonzept der Stadtbibliothek.

gp

Bild unten von links: Gert Scobel, Cordula Paar, Hubert Winkels.

Liste der vorgestellten Bücher:

Jan Wagner: “Regentonnenvariationen. Gedichte”

Philipp Ther: “Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa”

Michel Houellebecq: „Unterwerfung”

Philipp Felsch: „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990″

Hans Fallada: „Jeder stirbt für sich allein”

Arno Geiger: „Selbstporträt mit Flusspferd”

Norbert Scheuer: “Die Sprache der Vögel”

Jürgen Werner: „Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens”

Vladimir Nabokov : „Gesammelte Werke. Band 18: Vorlesungen über westeuropäische Literatur”

2 Antworten auf „Bowie trifft Foucault im Dschungel – und „scobel & winkels“ auf einen Überraschungsgast in der Zentralbibliothek“

  1. Alles in allem eine gelungene Veranstaltung! Ein Konzept, das mit Sicherheit Zukunft hat. Auch wenn ich die Buchauswahl nicht in jedem Fall überzeugend fand.
    Sehr gut gefallen haben mir Hubert Winkels einleitende
    Worte über die “Regentonnenvariationen”, sie machten Lust auf Lyrik und den Autor Jan Wagner. Auch seine beiden Kurzempfehlungen am Ende der Veranstaltung waren eine gute Wahl. Zudem war die Art und Weise der Buchvorstellung sehr ansprechend und motivierend.
    Schwierigkeiten habe ich mit der Auswahl der Bücher, über die
    ausführlich gesprochen wurde. Ich war ziemlich erstaunt, daß
    ausgerechnet Houellebecq vorgestellt wurde. Nach den Pariser
    Anschlägen ist er doch schon in allen Feuilletons rauf und runter
    diskutiert worden. da hätte ich mir eher eine interessante Neuerscheinung zur
    Messe gewünscht. Und “Der lange Sommer der Theorie”… tja, man muß wohl dabei gewesen sein. Es war ja ganz launig, wie die beiden Herren sich ihre Jugend
    erzählt haben, aber das Buch hat wohl vor allem eine Bedeutung für
    Insider. Denn den Diskurs, um den es in dem Buch geht, haben wir mitnichten
    alle in den 80ern während unseres Studiums erlebt. Die Zuschauerin schließlich
    hat ihre Sache wirklich gut gemacht, vom Konzept her hat sich diese
    Idee also sofort als sehr gut und tragbar erwiesen. Der Vorschlag Fallada hat mich allerdings sehr verblüfft… naja, man müßte wissen, was noch im Angebot war.
    Insgesamt war es aber eine überzeugene erste Veranstaltung. Ich bin schon gespannt auf Nummer 2!

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