Das „Buch für die Stadt“ 2021 im Spiegel der Presse: Jackie Thomaes Roman „Brüder“

Jedes Jahr kürt eine Jury bestehend aus Kölner Stadt-Anzeiger, Literaturhaus und Vertreter*innen aus dem Kölner Buchhandel das „Buch für die Stadt“. Der Roman wird im Sommer in einer günstigen Sonderausgabe neu herausgegeben. Im Herbst wird das Buch dann Gegenstand vieler verschiedener Veranstaltungen in Köln und Umgebung. In diesem Jahr hat es Jackie Thomaes Roman „Brüder“ geschafft und wird uns also in den nächsten Monaten begleiten. 

2019 stand „Brüder“ bereits auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, den dann aber doch Saša Stanišić mit „Herkunft“ gewann. 

Jackie Thomae, 1972 in Halle an der Saale geboren, Tochter einer ostdeutschen Mutter und eines Vaters aus Guinea, hat bereits mehrere Bücher – Ratgeber und zwei Romane – veröffentlicht und arbeitet außerdem als Journalistin. Ihr Roman „Brüder“ ist von der Presse gefeiert oder zumindest sehr positiv besprochen worden (alle überregionalen Zeitungen außer die NZZ) und verrissen worden (NZZ). 

Der Roman handelt von den Lebenswegen zweier sehr unterschiedlicher Männer, die nur ihr gemeinsamer Vater verbindet. Der Vater, ein Austauschstudent aus dem Senegal, bleibt den Brüdern lange Zeit unbekannt. Sie werden bei zwei unterschiedlichen Müttern groß, ohne voneinander zu wissen. Zwei Schwarze Jungen wachsen in der DDR auf – und ihr Leben und Streben verläuft komplett verschieden. Mick lebt in den Tag hinein, zieht durch die Berliner Clubs, ein sympathischer Hedonist, Charmeur und Taugenichts. Gabriel macht Karriere als Architekt in London, gründet eine Familie und wird Teil des steifen Gesellschaftslebens der gehobenen englischen Mittelklasse. 

Zwei Hände halten ein iPad auf dem Jackie Thomaes Roman "Brüder" als E-Book zu sehen ist

Positiv bemerken die Rezensentinnen, dass die Frage der Identität, die Frage der Hautfarbe eine so untergeordnete Rolle im Roman spielt. Für Marie Schmidt von der Süddeutschen Zeitung ist der Roman „deswegen so beeindruckend, weil es Thomae schafft, dass darin ‚race, class and gender‘ Thema sind und gleichzeitig nicht das Thema sind“. Auch „Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland ist nicht das Thema des Romans“, stellt Katrin Bettina Müller in der taz fest: 

„Zwar erleben Idris [der Vater der Brüder] – als Student in Leipzig – und Mick – in den Nachwendejahren in Pankow – rassistische Übergriffe, ziehen es aber vor, die nicht zur grundierenden Erfahrung ihres Lebens zu machen. Das ist zwar einerseits eine Leistung von Verdrängung, die ihnen aber andererseits auch ihre Offenheit und Zugewandtheit erhält. Ob diese Konstruktion der Wahrnehmung ihrer Wirklichkeit womöglich auch eine Verklärung ist, um Anpassung zu erleichtern – darüber denken sie nach, aber nur gelegentlich.“ 

Immer wieder werden Parallelen zu angloamerikanischen Erzähltraditionen gezogen, die Paul Jandl in der Neuen Zürcher Zeitung allerdings für ein Missverständnis hält. Für ihn strotzt „Brüder“ nur so von Klischees, Oberflächlichkeit, Trivialitäten. „Ist das der Trommelwirbel eines positiven Rassismus oder einfach nur Quatsch?“, fragt er sich.

Die SZ dagegen feiert „Brüder“ als deutsches Pendant zur „Great American Novel“ (SZ).  „Brüder“ sei auf eine „angelsächsisch anmutende Art ungemein intelligent, humorvoll und unterhaltsam zugleich geschrieben und bringt damit eine sonst weitgehend fehlende Qualität in die deutsche Literatur ein“, findet auch Katharina Granzin in der Frankfurter Rundschau

Den Vergleich mit Zadie Smith findet man gleich mehrfach (DIE ZEIT, FAZ). Andrea Diener schreibt dazu: 

„So, da ist er, der Vergleich, es wundert einen, dass er nicht schon viel früher irgendwo gefallen ist. Er liegt auch auf der Oberfläche so nahe: Die eine Autorin jamaikanisch-britisch, die andere mit einer ostdeutschen Mutter und einem Vater aus Guinea, beide aufgewachsen in Europa. Aber die Sache geht tiefer, denn beide, Smith wie Thomae, haben sich für das Prinzip des Erzählens entschieden und füllen ihre Bücher mit überbordenden, fiktionalen Biographien, beide haben ein Händchen für und einen sehr genauen Blick auf Lebensläufe und Zeitgeistumstände und einen Humor, der nie ins Zynische kippt – um jetzt nicht auch noch das fürchterliche Wort „warmherzig“ zu verwenden, auch wenn es die Sache trifft.“

Soviel zu den Meinungen in der überregionalen Presse. Der Kölner Stadt-Anzeiger bespricht sein „Buch für die Stadt“ auch sehr positiv. Für Anne Burgmer ist „Brüder“ „ein großer deutscher Gesellschaftsroman, in dem Thomae mit erstaunlicher Leichtigkeit die schwierigsten Themen verhandelt“. 

Überwiegend positive Kritiken also, in denen die Leichtigkeit des Erzählers in eine angloamerikanische Tradition gestellt wird. Es ist auch im Kontext gesellschaftlicher Debatten zum Thema Identitätspolitik interessant, dass in allen Rezensionen thematisiert wird, dass es im Roman erstaunlich wenig um Rassismus geht, obwohl die Protagonisten doch Schwarz sind. Darf es in Deutschland etwa nur in Romanen mit Weißen Protagonist*innen um allgemeinmenschliche Themen gehen?

Hier gibt es also viel Diskussionsstoff. Genug Gelegenheit zum Diskutieren wird es im Laufe des Jahres geben. Wer schon jetzt anfangen möchte, sich ein eigenes Bild zu machen, findet das Buch natürlich in der Bibliothek, als Buch und E-Book

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