Eine Zusammenfassung des Gesprächs am Freitag, 18. 11. 2016 um 19:30 in der Zentralbibliothek der Stadtbibliothek Köln
Der rote Faden des Gesprächs rankte sich um die zentrale Auffassung, dass das grundsätzliche Problem, das allen kapitalistischen Systemen innewohne, der Widerspruch zwischen der Produktion, also der monetarisierten Arbeit, und der (sozialen) Reproduktion, also der meist unbezahlten, im häuslichen Bereich geleisteten und für selbstverständlich hingenommenen Arbeit der Fürsorge im weitesten Sinne, sei.
Die Unzulänglichkeiten des heutigen Kapitalismus
In dem derzeit bestehenden kapitalistischen System, das Fraser den „finanzialisierten Kapitalismus“ nennt, stehe die Erhöhung der Produktion an erster Stelle. Hierfür würden nun auch Frauen auf ausbeuterische Weise in Arbeit gebracht – mit allen Vorteilen, die eine Erwerbstätigkeit selbstverständlich auch für die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen habe – und unter enormen Druck gesetzt, da eine Familie heutzutage nicht mehr nur von einem Einkommen leben könne.
Die Reproduktion, die Grundvoraussetzung für ein funktionierendes System der Produktion sei, werde marginalisiert und regelrecht aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängt. Unternehmen böten ihren Mitarbeitern mittlerweile systematisch Möglichkeiten, die reproduktive Arbeit auf einen späteren Lebensabschnitt zu verlegen (Einfrieren von Eizellen).
Gleichzeitig zögen sich Staat und Unternehmen aus der sozialen Verantwortung zurück und entzögen dem reproduktiven System unter der Überschrift „Austerität“ das wenige Geld, das ihm zur Verfügung stand. Renten und andere Sozialleistungen würden gekürzt, um den stets weiter wachsenden Schuldenberg abtragen zu können.
Auf diese Weise unterminiere und erodiere das produktive System das für sein Fortbestehen unerlässliche reproduktive System.
Es werde jeder/jedem Einzelnen überlassen, die reproduktive Sphäre selbst zu organisieren. Das führe u.a. zu einer Verlagerung des Problems in ärmere Länder, da die privilegierten Frauen im globalen Nord-Westen häusliche Tätigkeiten gewissermaßen auslagern und dafür Frauen aus dem globalen Süd-Osten (unter)bezahlen, deren reproduktive Arbeitskraft wiederum in ihren Herkunftsländern fehle. Die privilegierten Familien dort kauften diese Arbeit dann wiederum in noch ärmeren Ländern ein und so fort.
Mögliche Lösungen
Während Frau Fraser und Herr Streeck sich einig waren, dass ihnen als Soziologen nicht die Erarbeitung von Lösungen, sondern vielmehr eine möglichst treffende Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Lage obliege, ließ sich Nancy Fraser dennoch darauf ein, einen experimentellen Vorschlag für einen Lösungsansatz zu machen. Die Elemente einer Lösung kämen schließlich aus einer guten Diagnose, wie sie konstatierte. Reduzierung der Arbeitszeit, Erhöhung von Arbeitsentgelt, Verringerung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums und der Verschuldung – dies alles seien selbstverständlich notwendige Ansätze. Darüber hinaus müsse man aus feministischer Perspektive politische Anreize zum „Degendering“, also der Aufhebung klassischer Geschlechterrollen, fordern, um dem Widerspruch zwischen der produktiven und reproduktiven Sphäre zu überwinden.
Eine Lösung dürfe sich nicht nur auf eine der Sphären konzentrieren und dürfe nicht auf dem Rücken von Frauen (oder auch einer Untergruppe beispielsweise weniger privilegierter Frauen) oder bestimmter ethnischer Gruppen ausgetragen werden. Es gelte, das Zusammenspiel der produktiven und der reproduktiven Sphäre neu zu definieren. Denkbar wäre hier ein System der „universellen Fürsorge“ (universal care). Die Politik müsse Arbeit, Familie und Sozialleistungen gleichermaßen regeln, wobei die Grundlage sein müsse, dass jeder Mensch, ob Mann oder Frau, dieselbe Verantwortung für grundlegende fürsorgliche Aufgaben habe. Hier ergebe sich ein besonderes Problem für Single-Haushalte, in denen Aufgaben nicht gemeinschaftlich übernommen werden können.
Die US-Wahlen
Im Hinblick auf die US-Wahlen, die nicht unerwähnt bleiben durften, teilte Frau Fraser die Gender-Problematik des US-Wahlkampfs in zwei Aspekte ein: den rhetorisch-idiomatischen Aspekt und den Aspekt des gesellschaftlichen Versäumnisses. Zunächst betonte sie jedoch, dass in ihren Augen die Genderfrage nicht den Wahlkampf beherrschte, sondern die Frage von gesellschaftlicher Klasse und von Sektoren (beispielsweise ländlich vs. städtisch). Trump habe sich hierbei des Strukturwandels (Rückgang von Produktionsstätten im Zentrum des Systems), Clinton des Finanzsektors und der prekären unterbezahlten Dienstleistungen angenommen. Clinton habe also einen neoliberalen Feminismus verkörpert.
Die echte Spannungslinie sei, genau wie beim Brexit, dort verlaufen, wo die Menschen sagten: „Wir haben genug von diesem System! Das Leben wie wir es kennen, wird uns genommen. Unsere Kinder werden es nicht besser haben als wir.“
Betrachte man sich nun den rhetorischen Aspekt, so sei zu sagen, dass Trump frauenfeindliche und rassistische Phrasen drosch, während Clinton sich auf der Zielgeraden des Wahlkampfs einem regelrechten moralischen Kreuzzug gegen unanständiges Verhalten verschrieben habe. Und wenn eine Person den moralischen Zeigefinger erhebe, die Millionen von Dollar für Reden bei Goldman Sachs kassiere und sich in einem Strafverfolgungsverfahren weigere, ihre Korrespondenz offen zu legen, dann könne dies nicht als rechte Hetze abgetan werden, sondern komme bei der Bevölkerung verständlicherweise „nicht so gut“ an. Trotz aller zu verurteilenden rassistischen und frauenfeindlichen Trump‘scher Phrasen sei das Wahlergebnis nachvollziehbar und zu erwarten gewesen.
Ins Gewicht falle in diesem Zusammenhang auch, dass die US-Amerikaner vor acht Jahren mit der Wahl Obamas bereits einen historischen Durchbruch erlebt hatten. Die Tatsache, dass in einem Land, das auf Sklaverei aufbaue, ein Afro-Amerikaner Präsident wurde, sei bereits bahnbrechend gewesen. „Und was haben wir Amerikaner davon gehabt?“ fragte Nancy Fraser provokativ. „Enttäuschung!“ Der versprochene Wandel sei nicht eingetreten. Man habe also daraus seine Lehre gezogen. Auch in diesen Wahlen sei es um einen bahnbrechenden Wandel gegangen, doch diesen habe Hillary Clinton nicht verkörpert.
Frau Fraser forderte an dieser Stelle die Frauenbewegung und andere progressive gesellschaftliche Bewegungen dazu auf, das Wahlergebnis als Weckruf zu betrachten. Es gelte, die Haltung zu gesellschaftlicher Klasse und zur politischen Volkswirtschaft zu überdenken und sich nicht auf Lippenbekenntnisse zur Diversität zu beschränken.
Frage aus dem Publikum: Hätte Obama es besser machen können?
Möglicherweise schon, meinte Nancy Fraser, auch wenn sich dies schwierig gestaltet hätte. Er sei zwar rhetorisch versiert gewesen und habe, wie beispielsweise der brillante Rhetoriker Franklin D. Roosevelt, auch ein Narrativ geschaffen, habe die Menschen erreichen können – letzten Endes habe er jedoch nur Gesetze auf den Weg gebracht, die der Regierung und ihrer Entourage nutzen (inside the Beltway, wie die Amerikaner sagen). Das Volk hätte ihm verziehen, wenn er es anders versucht hätte und dabei gescheitert wäre. Es verzeihe ihm jedoch nicht, dass er es nicht einmal versucht habe.
Das Ende des Kapitalismus?
In der abschließenden Frage nach dem Ende des Kapitalismus bezog Nancy Fraser klar Stellung. Sie sei sich sicher, dass die derzeitige Form des Kapitalismus zwar nicht von heute auf morgen verschwinden, jedoch in dieser Form nicht mehr lange Bestand haben könne. Wir befänden uns an einem Wendepunkt, an dem eine neue Abmachung getroffen werden müsse. Der Kapitalismus habe historisch in Krisenzeiten durchaus eine Fähigkeit unter Beweis gestellt, sich stets neu zu definieren – möglicherweise würden wir es also mit einer abgewandelten Form des Kapitalismus zu tun bekommen. Andererseits sei auch eine nichtkapitalistische Alternative denkbar. Hierbei obliege es Soziologen wie Nancy Fraser selbst, die gesellschaftlichen Kräfte zu identifizieren, die in der Lage sind, eine wertvolle (nicht neoliberale) Alternative zu schaffen.
Zusammenfassung von Sarah King, die das Gespräch am Abend ins Deutsche gedolmetscht hat
Nancy Fraser ist Politikwissenschaftlerin und eine der bekanntesten US-amerikanischen Feministinnen. Zurzeit ist Fraser Henry A. and Louise Loeb Professor of Political and Social Science an der New School for Social Research in New York City.
Wolfgang Streeck ist ein deutscher Soziologe und Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.